Zuhause in Neukölln
Seit über 70 Jahren wohnt Gerhard rund um den Harzer Kiez- mit wenigen Unterbrechungen in Kreuzberg und Schöneberg. „Schöneberg ist nichts für mich. Zu hochnäsig“, meint er. Er schätzt es, dass man hier in Neukölln mit den Leuten „frei Schnauze“ reden kann. 1954 in der Briesestraße geboren, zog er als Sechsjähriger mit seiner Familie in die Finowstraße. Es gab damals viele Kinder und wenig Verkehr, erzählt er: „In der Kleinen Innstraße haben wir zusammen Völkerball gespielt. Wenn ab und an mal ein Auto kam, hat einer ‚Achtung Auto’ gerufen.“ Als Jugendlicher traf er sich mit seiner Clique auf dem Wildenbruchplatz, über den sich damals ein kleiner Bach schlängelte. Erst in den 70ern wurde er trockengelegt.
Der Kiez wird teurer und internationaler
Neukölln war zu dieser Zeit ein Arbeiterbezirk. „Es war sehr viel los, weil es eine Menge Kneipen gab“, erinnert er sich. Freitags ist man in die Kneipe gegangen, um das Wochenende einzuläuten und sonntags zum Frühschoppen. In den 1970er Jahren sind dann die ersten türkischen „Gastarbeiter“, wie sie damals genannt wurden, hergezogen. „Sie haben Geschäfte eröffnet und da haben wir natürlich auch eingekauft, ich hatte mit vielen von ihnen gute Kontakte“, erzählt Gerhard. Als in den 1980er Jahren immer mehr Wohnungen saniert wurden, zogen viele weg, weil sie es sich nicht mehr leisten konnten. Gerhard selber hat Glück. Seit 1980 wohnt er beim Wohnungsbauverein Neukölln, zunächst als Familie mit vier Kindern in der Laubestraße, wo er seine Frau bis zu ihrem Tod pflegte. 2018 zog er in eine kleinere Wohnung in die Bouchéstraße. Das Wohnhaus, in dem er bis heute lebt, steht direkt an der ehemaligen Mauer. Die Fahrbahn und der Gehweg gehören zu Treptow-Köpenick, wie Gerhard erfuhr, als er mal im Grünflächenamt anrief. Seine Schwiegermutter, mittlerweile über 90, hat schon zu Mauerzeiten in dem Haus gelebt und miterlebt, wie zwei Männer aus der Dachluke des gegenüberliegenden Hauses mit einem Pfeil ein Drahtseil hinüberschossen und sich in ihr Haus auf der West-Seite hangelten.
Ein aktives Leben
„Es hat sich unglaublich viel verändert“, sagt Gerhard, gelernter Krankenpfleger und später Polier auf Baustellen. Doch Vergangenem hinterherzujammern – das ist nicht sein Ding. Dass es immer mehr Ferienwohnungen gibt (und immer weniger Currywurst-Buden) sei zwar bedauerlich. Viele Touris wüssten sich nicht zu benehmen. Ansonsten gilt für ihn: Nichts bleibt, wie es war. Seine Offenheit für Neues hat er sich auch mit über 70 Jahren bewahrt. Gerhard schaut sich auch schon mal eine Travestie-Show im Kiezclub an. In seiner Genossenschaft hat er eine offene Malgruppe gegründet und vor seinem Haus die Baumscheibe begrünt. Und wenn all das irgendwann nicht mehr möglich sein sollte – dann ist es halt so. Kürzlich zog er sich aus gesundheitlichen Gründen aus dem Quartiersrat zurück. Weite Wege kann er mit Gehstock nicht mehr zurücklegen. Seine Devise: „Entweder mach ich etwas richtig oder gar nicht.“
Mitgeholfen, Gutes zu tun
Gerhard war im Quartiersrat eine Stimme für die ältere Bewohnerschaft. So hat er sich dafür eingesetzt, dass am Kiehlufer endlich Sitzbänke aufgestellt werden – leider ohne Erfolg, obwohl er sogar Stadtrat Biedermann mit seinem Anliegen in den Ohren lag. Doch insgesamt findet er großartig, was erreicht wurde. Die Gemeinschaftsparzelle „P 25“ in der Kleingartenanlage Wilde Rose beispielsweise sei doch eine feine Sache, findet er. Oder die Bibliothek für die Eduard-Mörike-Schule. Die Arbeit im Quartiersrat wird ihm fehlen, gerade weil man sich in dem Gremium nicht immer einig ist. „Kiezblocks beispielsweise finde ich nicht gut. Ich bin auf mein Auto angewiesen. Aber ich finde es schön, mit Menschen zu diskutieren, die eine andere Meinung haben.“ Nur eins soll so bleiben: Aus Neukölln will er auf keinen Fall wegziehen.