Die dunkle Geschichte Neuköllns: Das ehemalige Außenlager des KZ Sachsenhausen in der Sonnenallee
Das Gelände südöstlich des Hertzbergplatzes in der Sonnenallee ist ein grünes, freundliches Stück Neukölln. Der Fußballverein BSV Hürtükel kickt hier, nebenan liegt die Kleingartenanlage des „NCR-National Registrier Kasse e. V.“, wo Menschen unterschiedlichster Herkünfte gärtnern und eine lebendige Nachbarschaft pflegen. Während des 2. Weltkrieges hatte das Gelände eine finstere Funktion: Ab 1942 befand sich dort ein Zwangsarbeiter-Lager und von 1944 bis Kriegsende ein Außenlager des KZ Sachsenhausen.
Großes Interesse an der Führung
Der 26. April 2025 ist ein kühler, sonniger Samstag. Vor der Minigolf-Anlage auf dem Hertzbergplatz haben sich rund 20 Menschen versammelt, vor der Gruppe steht Steve Richards, ein gebürtiger Australier, der schon seit vielen Jahren in Berlin lebt und an der Freien Universität „Public History“ studiert hat. Steve organisiert regelmäßig Führungen zu geschichtlichen Themen in Berlin. Es ist bereits seine zweite Führung an dem Tag, ein paar Stunden zuvor ist er mit einer englisch-sprachigen Gruppe durch den Kiez gelaufen.
Von Registrierkassen zur Rüstungsproduktion
Dass die Nazis 1942 in der Sonnenallee ein Zwangsarbeiterlager errichteten, habe vor allem mit der benachbarten Fabrik der National Cash Register Company zu tun gehabt, erzählt Steve. Das amerikanische Unternehmen produzierte auf dem Areal zwischen Thiemannstraße, Werrastraße und Weigandufer seit 1896 Registrierkassen, seit 1934 in Kooperation mit dem deutschen Unternehmen Krupp. Als die USA 1942 in den Krieg eintraten, zog sich NCR vom Neuköllner Standort zurück. Die Produktion wurde auf Rüstung umgestellt, Krupp ließ fortan Zünder für die Luftabwehr zusammenbauen.
Zwangsarbeiterlager in Berlin
Bereits 1942, so Steve, sei es für die deutsche Industrie kaum mehr möglich gewesen, genügend Arbeiter*innen für die Rüstungsproduktion zu finden. In Folge des Arbeitskräftemangels wurden Menschen aus den besetzten Gebieten und Kriegsgefangene zur Arbeit in deutschen Betrieben gezwungen. Überall im Land entstanden Zwangsarbeiterlager, auch in der Hauptstadt: „Berlin ist durchzogen von Holzbaracken, ein Lager nach dem anderen“, notierte der französische Schriftsteller und Karikaturist François Cavanna, damals selbst Zwangsarbeiter und später einer der Gründer der Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo.
Außenlager des KZ Sachsenhausen
An der Sonnenallee wurden sechs Baracken vom „Bautyp 4a“ errichtet, drei für die Häftlinge, drei für die Wachen bzw. als Funktionsgebäude. Bis zu 520 Frauen waren zeitgleich inhaftiert. Im August 1944 übernahm die SS das Lager und funktionierte es zum „Außenlager des KZ Sachsenhausen“ um. Weil Krupp auch mit den Zwangsarbeiter*innen den Arbeitskräftebedarf nicht decken konnte, „bestellte“ die Firma im Juni 1944 noch 2000 KZ-Häftlinge. Die Menschen, die man in die Sonnenallee brachte, waren ausschließlich Frauen zwischen 20 und 25 Jahren, die an der berüchtigten KZ-Rampe in Auschwitz als „arbeitsfähig“ eingestuft wurden und dadurch ihrer Ermordung im Vernichtungslager entkamen.
Die Zustände in den Baracken waren ambivalent: Zum einen gab es Fernwärme und teilweise lauwarmes Wasser, zum anderen kaum Hygiene und nur 125 Gramm Brot sowie eine wässrige Suppe als tägliche Nahrungsration. Die dünnen Decken, so eine Zeitzeugin, seien schwarz vor Dreck gewesen.
Im April 1945 wurde das Lager von der SS aufgelöst, von Osten her rückte die Rote Armee in Neukölln ein. Auch heute noch sieht man am Haus in der Sonnenallee 191, das direkt neben der Kleingartenanlage steht, Einschusslöcher in der Fassade.
Die meisten Frauen überlebten
Viele der Frauen im Lager wurden auf Befehl Himmlers, der sich „freikaufen“ wollte, schon vorher nach Schweden gebracht. Fast alle Frauen, erzählt Steve, hätten überlebt. Die meisten waren aber auf sich alleine gestellt, weil ihre Angehörigen in den Vernichtungslagern ermordet wurden.
1957 wurden schließlich die letzten Baracken abgerissen. Der Kleingartenverein „NCR-National Registrier Kasse e. V.“ hat zum Gedenken an die Frauen eine Tafel aufgestellt und am Eingang zur Kleingartenkolonie wurde 1994 ein Lichtkunstwerk des Künstlers Norbert Rademacher installiert. Bei Dunkelheit wird dort in Schriftform die Geschichte des Lagers auf den Gehweg projiziert.
M. Hühn, Webredaktion 2025